Wir sind nicht Sklaven des technologischen Fortschritts

Veröffentlicht am: 02.11.2020Kategorie: Allgemein

Unser Zeitalter ist geprägt durch die fortschreitende Digitalisierung. Smartphones, Laptops, Smartwatches und viele weitere Gadgets werden immer wichtiger für unseren Alltag. Diese Entwicklung wirkt sich nicht nur auf unsere Freizeit, sondern auch auf die Arbeitswelt aus. Seit Jahren werden immer mehr Jobs automatisiert - ein Trend, der von der anhaltenden Krise nochmals befeuert wird.

Unser Mitspracherecht

Wir scheinen diesen Umwälzungen, getrieben von technologischen Errungenschaften, vollkommen ausgeliefert zu sein. Doch dem ist nicht so. Jetzt mehr den je müssen wir uns daran erinnern, dass nicht Technologie alleine unsere Gesellschaft verändert. Vielmehr sind es die Entscheidungen, welche wir als Kollektiv treffen - auch darüber, wo und wie wir Technik einsetzen möchten.

Ein historisches Beispiel

Schauen wir in der Geschichte etwas zurück, können wir anhand der Industriellen Revolution gut beobachten, welche Macht unsere Entscheidungen über die Verwendung von Technologie haben. Bereits im 18. Jahrhundert, also knapp ein Jahrhundert bevor riesige, dampfgetriebene Fabriken die Landschaft säumten, organisierten Unternehmer bereits Arbeiter in Manufakturen. Durch diese Konzentration der Arbeitskraft konnte die Produktivität gesteigert werden. So wurde zum ersten Mal Arbeit und Wohnen getrennt, denn zuvor verarbeiteten Bauern jeweils die Wolle zu Garn oder Tuch bei sich zu Hause.

Diese neue Organisation der Arbeit war die grundlegende Voraussetzung für die Industrielle Revolution. Technologien wie die Dampfmaschine oder dampfbetriebene Webstühle schufen also nicht die moderne Fabrik. Sie zementierten und förderten lediglich eine Entwicklung, welche bereits zuvor im Gang war.

Der Ursprung unseres Übels

Bei der fortlaufenden Digitalisierung verhält es sich ähnlich wie bei der industriellen Revolution des 19. Jahrhunderts. In den letzten 10 Jahren entstanden 94 % aller Jobs ausserhalb von traditionellen Arbeitsverhältnissen, also als Stellen auf Abruf oder Teilzeitjobs. Das Internet trug sicher dazu bei, dass diese Entwicklung vorangetrieben wurde. Apps wie Uber und TaskRabbit nutzen lediglich bereits unabhängige Arbeitskräfte. Doch wieso ist dies der Fall?

Kurz nach dem 2. Weltkrieg gründete der Amerikaner Elmer Winter die Firma Manpower. Diese versorgte die Kunden mit Sekretären und Sekretärinnen auf Abruf. Er realisierte schon bald, dass dieses System das Potenzial dazu hatte, ganze Belegschaften zu ersetzen. Durch Manpower hatten Winters Kunden immer Arbeitskräfte auf Abruf bereit, wenn diese gebraucht wurden, ohne sie voll anstellen zu müssen. So konnten die Firmen viel Geld sparen. Doch kaum jemand nahm die Dienstleistungen von Manpower in Anspruch. Die grosse Depression der 30er-Jahre war noch nicht vergessen und den meisten Firmen schien die Bindung ihrer Arbeitnehmenden wichtiger als die höhere Gewinnmarge.

Das ganze änderte sich erst in den 70ern, als sich eine neue Unternehmensphilosophie verbreitete, welche Aktienkurse und kurzzeitige Gewinne gegenüber Langzeitinvestitionen und erhöhter Produktion bevorzugte. Die Firma der Zukunft sollte schlank, flexibel und vor allem möglichst klein sein. Dies führte dazu, dass immer mehr Jobs ausgelagert wurden.

Diese Veränderung befreite die einen Arbeitnehmenden von dem rigiden Konzept der 42-Stunden Woche. Doch gleichzeitig führte diese Freiheit für die grosse Mehrheit lediglich zu mehr Unsicherheit. Viele Verpflichtungen, welche die Unternehmen gegenüber ihrer Angestellten hatten, wurden aufgeweicht oder sind mittlerweile ganz aufgelöst. Dies zerstört den Schutz, den sich Arbeitgeber gegenüber Arbeitnehmenden über lange Zeit mühsam erkämpft hatten.

Fazit

Es sind also nicht die sogenannte “gig economy” oder die Digitalisierung, welche unsere herkömmlichen Jobs gefährden. Vielmehr ist es die vorherrschende Wirtschaftsphilosophie, gemäss der Firmen möglichst schlank und flexibel sein sollten, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Technologie ist das Werkzeug, welches diesen Wandel zementiert und vorantreibt, doch nicht der Grund dafür.

Wegen der neuen Umstände ist es wichtig, dass wir als Gesellschaft einen Diskurs über die Regelung des Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer führen. Es wurden bereits viele Ideen vorgeschlagen, zum Beispiel ein universelles Grundeinkommen. Es gibt hier, wie oft, vermutlich nicht eine Massnahme, welche alleine alle Probleme löst. Jede Gesellschaft muss ihren eigenen Weg finden. Doch wir dürfen nie vergessen, dass es unsere Entscheidung ist, wie wir die Gesellschaft gestalten, und wir dabei nicht der technologischen Entwicklung hilflos ausgesetzt sind.

Quelle: nytimes.com

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